Das Märchen von der Stärke

Ungefähr seit 2013 geistert ein Märchen durch die Reihen der Hundehalter, nämlich das Märchen, dass der Hund (Canis lupus familiaris) Stärke besser verwerten könne als seine Urform, der Wolf (Canis lupus).

Was ist davon zu halten?

Wissenschaftliche Untersuchungen in den letzten Jahren haben ergeben, dass der Haushund im Laufe der Domestikation auf genetischer Ebene seine Fähigkeit Stärke aufzuspalten, verbessert hat.

Seither wird diese Erkenntnis reihenweise dazu verwendet, um die Fütterung von pflanzlichem und vor allem stärkehaltigem Futter zu rechtfertigen. Und - ein Schelm, wer Böses dabei denkt - natürlich ist die meiste Stärke im industriellen Futter enthalten!

Sagen wir es so: die wissenschaftliche Aussage ist korrekt.

Was ist nun das Märchen daran?

Die Schlussfolgerung!

Fangen wir vorn an.

Menschen (Homo sapiens) generieren ihre Energie primär aus Kohlenhydraten, wie das eben bei Allesfressern so ist. Die Energiegewinnung aus Fetten ist beim Menschen als sekundäres Notprogramm zu verstehen.

Hunde, die zum Teil Beutegreifer und zum Teil Aasfresser sind (und NICHTS anderes!), generieren ihre Energie primär aus Fetten und schalten erst auf die Energiegewinnung aus Kohlenhydraten um, wenn es eine Notlage gibt. Hier ist also das Notprogramm die Energiegewinnung aus Kohlenhydraten.

Warum ist das so?

Ein Allesfresser findet regelmäßig kohlenhydrathaltige (stärke-) Nahrung. Stärke befindet sich hauptsächlich in Samen und Knollen, also den Speicherorganen der Pflanzen. In der Wurzel/Knolle/Zwiebel etc. werden Kohlenhydrate in Form von Stärke zur Versorgung der Pflanze selbst gespeichert, im Samen zur Versorgung des Keimling. Allesfresser (z. B. Wildschweine) graben im Boden regelmäßig nach Nahrung und kommen so an die Wurzeln heran.

Beutegreifer und Aasfresser tun dies nicht! Sie generieren ihre Energie aus den Fetten, die sie mit dem Beutetier aufnehmen. Dass ein Wolf stärkehaltige Nahrung aufnimmt, wurde noch nie nachgewiesen. Das einzige, das je nachgewiesen wurde, ist, dass ein Wolf Früchte aufnimmt.

Siehe auch: Der Mythos vom pflanzlichen Anteil

Hier begegnet ihnen aber nur Fruchtzucker (Fructose) und keine Stärke. Die Stärkemenge im Samen ist im Vergleich dazu winzig und der Samen wird auch nicht geöffnet, sondern vollständig wieder ausgeschieden (das machen wir Menschen übrigens auch so, unser Verdauungssystem kann keine Samen öffnen).

Aus welchem Grund sollte der Wolf nun also einen Mechanismus haben, der ihm erlaubt Stärke zu verarbeiten? Er kann es zwar, aber nur im äußersten Notfall, wenn sein Überleben massiv bedroht ist.

Schauen wir uns das Ganze anatomisch an!

Der Mensch beginnt bereits im Mund Kohlenhydrate aufzuspalten.

Was ist mit „aufspalten“ gemeint?

Kohlenhydrate liegen in der Natur in 4 Formen vor:

  • Glukose (kleinste Moleküle)
  • Fructose (Fruchtzucker - größere Moleküle)
  • Stärke (große Moleküle)
  • Zellulose (größte Moleküle)

Um Kohlenhydrate zur Energiegewinnung einsetzen zu können, müssen die Moleküle IMMER erst von Organismus „zerhackt“ werden, also in den Zustand der Glukose versetzt werden.

Menschen, Allesfresser und Pflanzenfresser haben im Mundspeichel ein Enzym, die Amylase, das bereits dort mit der Aufspaltung der Stärke beginnt. Ein Wolf/Hund hat KEINE Amylase im Speichel. Diese Amylase kann auch bei Menschen NUR Stärke spalten, Zellulose, das Baumaterial der pflanzlichen Zellwände, können auch wir nicht verarbeiten. Dies können nur reine Pflanzenfresser, deren Verdauungssystem deshalb von unserem sehr stark abweicht, nämlich z. B. durch das Vorhandensein von 4 speziellen Mägen und einem vollständigen Blinddarm, der bei uns weitgehend zum Appendix verkümmert ist.

Wenn Kohlenhydrate im Blut eines Säugetiers ankommen, ist es keine Stärke mehr, sondern immer Glukose (Ausnahme sind Katzen, bei ihnen kommt auch Fructose im Blut an, was sie besonders anfällig für Erkrankungen wie Diabetes macht und aus diesem Grund misst der Tierarzt bei Katzen auch nicht den Glukosegehalt des Blutes, sondern den Fructosamingehalt). Die Regulierung des Glukosegehalts im Blut ist Aufgabe der Pankreas/Bauchspeicheldrüse, die dies mit Hilfe von Enzymen wie Amylase, Insulin etc. tut.

Im Gegensatz zu Menschen kommt Stärke beim Hund im Magen also nicht schon in aufgespaltener Form an, sondern immer als Stärke. Erst viel später kann also der Hund, soweit überhaupt möglich, die Stärke aufspalten.

Kohlenhydrate, die im Organismus überschüssig sind und nicht zur Energiegewinnung benötigt werden, werden unter Aufwendung körpereigener Energie chemisch in körpereigene Fette umgewandelt und in den Fettzellen, z. B. im Unterhautfett, für schlechte Zeiten eingelagert. Führt man dem Organismus zu viele Kohlenhydrate zu, führt dies zu Übergewicht und Fettleibigkeit und allen negativen Begleitfolgen wie Diabetes etc., - beim Hund wie beim Menschen.

An dieser Stelle müssen wir einen Blick in die Geschichte des Hundes werfen.

In vielen Jahrhunderten war der Hund ein Arbeitsgerät des Menschen, er musste sich viel bewegen und hat dabei sehr viel Energie verbraucht. Fast alle Hunde lebten auf dem Land, denn Städte gab es anfänglich gar nicht und später war der Hund in der Stadt auch eher die absolute Ausnahme und eine Beschäftigung ganz reicher Leute.

Auf dem Land stand einem Hund immer ausreichend tierische Kost zur Verfügung, denn entweder hat er es in Form von Schlachtabfällen bekommen, oder auch mal in Form von gestorbenen Nutztieren, oder er hatte die Gelegenheit selbst Mäuse, Ratten etc. zu jagen. Kein Mensch hat darauf geachtet, was ein Hund in seiner Freizeit macht und im Gegensatz zu heute war es sogar seine Aufgabe, den Hof von Mäusen und Ratten frei zu halten. Und er hat sie bestimmt nicht nur verjagt oder nach dem Töten beerdigt!

Teilweise haben die Hunde aber auch stärkehaltige menschliche Nahrungsabfälle bekommen, die die Hunde auch genommen haben, wenn ihnen nicht genug tierische Nahrung zur Verfügung stand. Ob ein Hund dadurch gesundheitlichen Schaden genommen hat, war den Besitzern meist gar nicht bekannt (heute wird ja immer frei weg behauptet, die Hunde wäre damals gesünder gewesen), und es war auch egal ob der Hund mit 8 Jahren krank wurde oder starb. War er krank, wurde er eben erschlagen, Nachwuchs gab es genug, denn jeder hat ihn selbst produziert oder der Nachbar hatte ihn. Im Gegensatz zu heute wurden zu diesen Zeiten sogar mehr Welpen erschlagen oder ertränkt als groß gezogen, weil keiner sie durchfüttern konnte. Und dass Krankheiten möglicherweise auf Kohlenhydrat-Überschuss zurück zu führen waren, hat auch kein Bauer gewusst oder es hätte ihn auch wenig interessiert.

Durch die gegenüber der Natur veränderte Ernährungsweise hat der Hund nun tatsächlich eine verstärkte Stärkeaufspaltung entwickelt, aber eben nicht schon im Speichel. Der Hund hat sein naturgegebenes Notprogramm auf Dauerbetrieb umschalten müssen, um überleben zu können - nicht leben, sondern überleben! Aber! Notprogramme belasten den Organismus immer mehr als die Originalprogramme und verschleißen jeden Organismus, wenn sie nicht nach einiger Zeit wieder abgeschaltet werden können.

In den Zeiten von Nahrungsknappheit war es für den Hund überlebensnotwendig auch aus Stärke Energie zu ziehen. Das Enzym, dass er dazu einsetzt, ist eine chemische Vorstufe der Amylase, keine echte Amylase, und die auch erst im Körperinneren und nicht schon im Maul. Auf den ersten Blick scheint es, dass der Hund dadurch einen Vorteil gegenüber dem Wolf hat und ja, in Notzeiten ist das auch tatsächlich so - für kurze Zeit.

Nun leben Hunde heute aber völlig anderes.

Sie leben in Städten und haben dort keine anderen Aufgaben mehr als schön auszusehen. Auf dem Land sind die Aufgaben von Hunden ebenfalls stark zurück gegangen. Außerdem ist es uns heute nicht mehr egal, ob ein Hund mit 8 Jahren krank wird und stirbt, und wir erschlagen auch einen kranken Hund nicht mehr. Wir möchten, dass er 15 Jahre lang Mitglied unserer Familie und gesund bleibt. Zwischenfrage: sind unsere Hunde in der Mehrzahl gesund? Oder setzen sich die Hundehalter alle ins Wartezimmer von Tierärzten, weil das TV-Programm schlecht ist?

Außerdem dürfen unsere Hunde ihre Nahrung nicht mehr selbst suchen und Bewegung haben sie auch kaum noch, sehen wir mal von den stressreichen sportlichen Betätigungen ab, die der Mensch in Begleitung seines Hundes zur Befriedigung seines Egos durchführt.

Zu guter Letzt leben unsere Hunde in einem Nahrungsüberschuss, was man wohl an den ganzen laufenden Presswürsten auf unseren Straßen deutlich sehen kann. Und nun kommen wir und stopfen dem Hund Stärke in den Kopf und rechtfertigen dies mit einer genetischen Untersuchung.

Was passiert?

Durch diese neu erworbene Fähigkeit spaltet der Hund viel mehr Stärke, die er außerdem noch in viel größerer Menge zugeführt bekommt, zu Glukose auf. Diese Glukose kommt im Blut an und die Bauchspeicheldrüse wird ständig weit über ihre Belastungsgrenze hinaus gefordert. Fragt man einen Tierarzt, welche Erkrankung eine der häufigsten bei Hunden ist, dann wird Diabetes wohl eines der meist gehörten Antworten sein. Warum wohl? Weil es für den Hund ein Vorteil ist, mehr Stärke in Glukose aufspalten zu können?

Schafft es das anpassungsfähigste Säugetier dieser Erde, der Canis lupus in seiner vom Menschen veränderten Form, nun, den durch massenhaft Stärkefutter hervorgerufenen Glukoseregen einigermaßen schadlos zu überstehen, dann muss die Glukose irgendwo hin, denn zur Energiegewinnung wird nach wie vor primär Fett eingesetzt und erst dann, wenn das Fett aufgebraucht ist (lustigerweise sind unsere Industriefutter fettreduziert!) wird die Glukose angerührt. Alle nicht verbrauchte Glukose wird nun wie oben beschrieben in körpereigenes Fett umgewandelt und im Unterhautfettgewebe für schlechte Zeiten gebunkert (aber welche schlechten Zeiten erleben unsere modernen Hunde denn?). Übergewichtige Hunde mit Speckkragen und irgendwie an Hängebauchschweine erinnernde Unterlinien in massenhaftem Auftreten sind die Folge, denn die gespeicherte Glukose wird nie wieder angerührt, es kommt ja immer wieder genug nach.

So, und schlussendlich bekommt man vom Tierarzt ein Diätfutter mit was drin? Genau: Stärke!

Wenn irgendjemandem die Widersinnigkeit des Ganzen auffallen sollte, dann sage er bitte laut und deutlich: hier!

Man sieht also deutlich, dass hier ein wissenschaftliches Forschungsergebnis völlig planlos als Argument für etwas herhalten muss, dass so widersinnig ist wie nur irgendwas. Aus einem neutralen wissenschaftlichen Fakt wird der größte Blödsinn konstruiert, nur um Profitgier auf der Herstellerseite zu rechtfertigen und das schlechte Gewissen des Hundehalters und sein mangelndes biologisches Wissen zu beruhigen. Und so genannte Hundeexperten verbreiten diesen Unfug reihenweise im Internet, im TV und in der Literatur.

Die unbestrittene Tatsache, dass ein Canis lupus familiaris Stärke besser aufspalten kann als seine Urform, ist KEIN Segen für ihn, sondern sein größter FLUCH!

Denken Sie drüber nach!

(Henry Wollentin)

 
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